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Viadukt – 199 – 2025/06

Erinnerung und Gedenken – oder wie die Zerstörung der Stolpersteine keine Erinnerung auslöschen kann

Am Hirtenhaus 4 – mitten in unserem Stadtteil, auf dem Weg zur Erholung am Auensee – liegen zwei Stolpersteine. Sie erinnern an den letzten frei gewählten Wohnort von Max und Mary Lesser. Lesen kann man das inzwischen nicht mehr: Erst wurden die Steine zum Jahreswechsel 2024/2025 mutwillig beschädigt, nun – rund um den Jahrestag der Novemberpogrome – vollständig zerstört. Doch auch wenn die Schrift unleserlich, die Oberfläche zertrümmert und die Steine entstellt wurden: Die Erinnerung an Max und Mary Lesser bleibt. Sie bleibt, weil Menschen in unserem Stadtteil dafür einstehen. „Wir erinnern und gedenken trotzdem!“ – mit diesem entschlossenen Satz rief ein Bürger zu einer Gedenkaktion auf. Und tatsächlich: Es ging nicht allein um Stille oder Trauer, sondern um ein klares Zeichen gegen Ausgrenzung, gegen die Verachtung von Menschenleben und gegen den scheinbar nie endenden Antisemitismus.

Wer waren Max und Mary Lesser?

„An Menschen kann man nur erinnern, wenn man ihr Leben kennt“ – so formulierte es der Initiator der Gedenkaktion. Max Lesser wurde 1878 bei Posen geboren und entstammte einer angesehenen Unternehmerfamilie. Er heiratete 1908 Wally Honig, die Familie bekam drei Söhne. Nach wirtschaftlichen Verlusten und einer Scheidung zog Max nach Leipzig, wo er Mary kennenlernte. Mary arbeitete im Textilhandel, sie heirateten 1931 und lebten zuletzt gemeinsam im „Schußheim’schen Altersheim“ hier in Wahren. Vieles über ihr Leben im Alltag ist verloren – aber sie waren ein Paar, sie liebten, arbeiteten, lebten – mitten unter Menschen, in dieser Stadt, in unserem Stadtteil. Am 14. November 1938 wurde Max nach der Pogromnacht verhaftet und ins KZ Buchenwald gebracht. Er wurde nur freigelassen, weil er aufgefordert wurde, Deutschland zu verlassen – eine Flucht, die trotz aller Bemühungen seines Sohnes Reinhard nie möglich wurde. Danach folgte die finanzielle Ausplünderung: erst Vermögensabgaben, dann Enteignung. Am 21. Januar 1942 wurden Max und Mary ins Ghetto Riga deportiert – bei Temperaturen von –30°C, in ein überfülltes Lager, in dem Hunger, Gewalt und Tod allgegenwärtig waren. Im März 1942 wurden tausende Menschen unter dem Vorwand von Arbeitstransporten nach Dünaburg erschossen – darunter auch Max und Mary. Er war 63, sie 49 Jahre alt.

Warum die zerstörten Steine uns alle etwas angehen

Die Stolpersteine erinnern an Max und Mary Lesser. Und sie erinnern weiterhin – auch jetzt, nach ihrer Zerstörung. Die Täter haben keine Gedenksteine beschädigt, sondern eine Botschaft hinterlassen: „Diese Menschen sollen vergessen werden.“ Gerade deshalb dürfen wir nicht vergessen. Denn es beginnt leise: mit Wegschauen, einem Schulterzucken, dem Gedanken „Das betrifft mich nicht.“ Doch wir sind diese Stadt – wir sind Leipzig. Wir sind die Gesellschaft. Und wir alle tragen Verantwortung dafür, unsere Nachbar:innen, Freund:innen und Familien in ihrer
Menschenwürde und Freiheit zu schützen. Nur wenn wir gemeinsam aufmerksam bleiben, wenn wir nicht hinnehmen, dass Erinnerung diffamiert oder zerstört wird, kann das oft zitierte „Nie wieder!“ mehr sein als eine Formel. Es kann ein echtes, gelebtes, dauerhaftes „Nie wieder!“ werden.

Erinnerung lebt durch Menschen

Der Kontakt zu den Nachfahren der Familie Lesser bestärkt uns: Die Steine werden erneuert. Und wir werden gemeinsam dafür sorgen, dass sie bleiben – dass die Erinnerung an das Schlimmste, was Menschen anderen Menschen angetan haben, nicht vergeht. Der Sportjournalist Marcel Reif sagte: „Sei a Mensch.“ Es ist ein Satz, der kein Gedenken verlangt, sondern Haltung. Seid euch eurer Menschlichkeit bewusst – in Worten und in Taten.

Dr. M. Helbig, 2025


Bürgerverein verurteilt Angriff auf Stolpersteine

In der Nacht zum 9. November wurden die beiden Stolpersteine am Hirtenhaus 4 in Wahren, welche an Max und Mary Lesser erinnern, mutwillig zerstört. Die Steine wurden in Gedenken an das Ehepaar Lesser verlegt und erinnern an ihr Leben sowie ihre Ermordung durch die Nationalsozialisten. Der gesamte Vorstand des Bürgervereins Möckern-Wahren e. V. verurteilt diese Tat aufs Schärfste und hofft auf polizeiliche Aufklärung. Der Vorsitzende des Bürgervereins, Rick Ulbricht, erklärte hierzu: „Die Steine erinnern an diese Menschen, genau dort, wo sie lebten und wo sie ein Teil unserer Gesellschaft waren, bevor sie Hass und Mord zum Opfer fielen. Ein Angriff auf diese Steine ist ein Angriff auf unsere Grundwerte und unser gesellschaftliches Miteinander. Diese Tat betrifft uns alle.“ Der Bürgerverein Möckern-Wahren setzt sich entschieden für ihre Wiederherstellung ein, denn sie stehen symbolisch für die notwendige Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte und den respektvollen Umgang mit den Opfern. In Leipzig gibt es knapp 850 Stolpersteine, die die AG Stolpersteine in Leipzig gemeinsam mit zahlreichen Partnern bisher verlegt hat. Jeder kann die Arbeit durch Spenden unterstützen oder an der jährlichen Putzaktion zum 9. November teilnehmen.

Rick Ulbricht